In Deutschland sind etwa 50.000 Menschen obdachlos – und es werden immer mehr. “Housing First” heißt ein Konzept aus den USA, das dagegen helfen soll. Wie funktioniert das in einer Metropole wie Berlin?
Mal eben eine Wohnung für Obdachlose ohne Wenn und Aber? Wie soll das gehen in einer Stadt wie Berlin, wo es sowieso schon viel zu wenig, vor allem bezahlbaren Wohnraum gibt und geschätzt bis zu 10.000 Menschen auf der Straße leben?
“Es wird nicht funktionieren, wenn wir nicht ausreichend Wohnungen haben, da kann man noch so tolle sozialpädagogische Angebote machen”, sagt Corinna Müncho, die Projektleiterin von “Housing First Berlin”, die das Vorhaben seit fünf Jahren in der Hauptstadt vorantreibt. “Aber wir können zeigen, dass die Wohnungswirtschaft durchaus bereit dazu ist und dass es möglich ist, dass diese Menschen gut und würdevoll in einer Wohnung leben können.”
Dafür müssen alle am Projekt Beteiligten viel Überzeugungsarbeit leisten bei Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften, privaten Vermietern, Anwohnenden und natürlich den Regierenden. Aktuell konnten mit Hilfe von “Housing First Berlin” rund 140 Wohnungen an langjährige Obdachlose vermittelt werden, 80 davon an Frauen. Und in den allermeisten Fällen funktioniert das gut, so Müncho, entgegen möglicher Skepsis oder Vorteilen gegenüber Obdachlosen, bisher habe es lediglich eine Räumungsklage gegeben.
Obdachlosenhilfe wird umgekrempelt
Die Idee hinter “Housing First” ist – wie der Name schon verrät – langjährigen Obdachlosen, die den Anschluss an die Sozialsysteme verloren haben, zuerst eine Wohnung zu vermitteln ohne Vorbedingungen. Also ohne dass etwa von Suchtproblemen Betroffene einen Entzug machen müssen oder dass sie auf eine andere Art und Weise ihre “Wohnfähigkeit” nachweisen müssen, wie es in der Beschreibung des Projektes heißt. Einzig auf Hilfsangebote und Beratung durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen sich die Obdachlosen einlassen.
Entwickelt wurde der Ansatz um die Jahrtausendwende in den USA als Alternative zum bestehenden System von Notunterkünften, ambulanter Hilfe und temporärer Unterbringung. Seit einigen Jahren wird das Konzept auch in Deutschland praktiziert, in Hamburg, Bremen, Stuttgart, Köln. Düsseldorf zum Beispiel.
In Berlin gibt es “Housing First” seit 2018 zunächst in Form von zwei Modellprojekten, eines davon nur für Frauen. Seit Mitte dieses Jahres haben sich dort vier weitere Projektträger das Konzept zu eigen gemacht. Finanziert werden die Vorhaben durch jährliche Zuwendungen des Landes Berlin, im Doppelhaushalt 2022/2023 sind das insgesamt 6,1 Millionen Euro. Für die kommenden beiden Jahre sieht es ähnlich aus, was danach wird, hängt von den politischen Entscheidungen des Abgeordnetenhauses ab.
Vom Modellprojekt zur Regel
Genau hier sieht Müncho eines der größten Probleme, “Housing First” nachhaltig zu etablieren. Viele der Obdachlosen seien auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben in einer eigenen Wohnung auf jahrelange Unterstützung und Begleitung angewiesen. Das sei schwierig zu gewährleisten mit einem gedeckelten Haushalt, der von Jahr zu Jahr neu genehmigt werden müsse.
Wichtig sei es, “Housing First” zu einem Teil des Regelsystems der staatlichen Hilfen für Wohnungslose zu machen. Der Weg dahin sei noch lang, so die Projektleiterin. Es habe sich aber bereits einiges verändert auf Bundes- und Landesebene, seit das Europäische Parlament vor drei Jahren das Ziel verkündet hat, die Obdachlosigkeit in der Europäischen Union bis 2030 zu beseitigen.
Eine Vorgabe, die auch die Ampelkoalition übernommen hat, auch wenn der für dieses Jahr angekündigte “Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit” erst im kommenden Frühjahr vom Bundesbauministerium vorgelegt werden soll.
Mehr als eine halbe Million Wohnungslose
Wie dringend das Problem ist, illustrieren die jüngst erhobenen Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). Laut deren Hochrechnungen hat die Zahl der Menschen ohne Wohnung im Verlauf des Jahres 2022 stark zugenommen, um mehr als ein Drittel im Vergleich zu 2021, von 383.000 auf 607.000.
Von ihnen waren im vergangenen Jahr 196.000 deutsche Staatsbürgerinnen und -bürger und 411.000 Ausländerinnen und Ausländer. Letzteres ist laut BAGW vor allem auf die Zunahme der Zahl wohnungsloser Geflüchteter zurückzuführen, ganz besonders aus der Ukraine. Die Hochrechnungen der BAGW schließen institutionell untergebrachte Menschen ein. Außerdem Menschen, die vorübergehend bei Freunden oder Verwandten untergekommen sind und solche, die gänzlich ohne Obdach auf der Straße leben. Deren Zahl belief sich im Laufe des Jahres 2022 auf etwa 50.000.
Laut BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke braucht es eine große Kraftanstrengung, um das Ziel zu erreichen, bis 2030 die Obdachlosigkeit zu überwinden. “Bezahlbarer Wohnraum ist zwar eine Voraussetzung für die Überwindung von Wohnungslosigkeit, aber es bedarf gezielter Maßnahmen, um wohnungslose Menschen wieder in eine eigene Wohnung zu bringen, denn oft sind sie Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt.” Deshalb plädiert Rosenke unter anderem für Quoten für Wohnungslose etwa bei der Vergabe von Sozialwohnungen.
Zuerst ein Zuhause gilt nicht für alle
Dass so viele der Obdachlosen aus dem Ausland kommen und deshalb hierzulande keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, schränkt die Möglichkeiten von “Housing First”-Projekten ein. Denn nur diejenigen, die auch transferleistungsberechtigt sind, können in diese Programme aufgenommen werden, da ja vom Geld, dass von den Ämtern gezahlt wird, die Wohnungsmieten beglichen werden müssen.
Für all diejenigen ohne diesen Leistungsanspruch bleibt weiterhin nur der Platz in einer Notunterkunft oder unter einer Brücke.